29.7.05

Bald heult ihr auch

Gerade ist einer der Protagonisten der "Todgeweihten" gestorben. Ich hatte das von Anfang an geplant. Ich hätte vorbereitet sein müssen. Und doch sitze ich vor dem Computer und heule und habe Mitleid mit ihm und bin froh, als er endlich keine Schmerzen mehr hat und seine letzten Worte gesagt hat. Was er zum Schluß denken würde, das wußte ich nicht, das war nicht geplant, und ich vermisse ihn umso mehr wegen seiner letzten Gedanken.

Gar nicht so leicht, jetzt wieder in das normale Leben aufzutauchen, einkaufen zu gehen fürs Wochenende, E-Mails zu beantworten (eine tausendfache Entschuldigung an euch, die ihr ewig auf Antworten von mir wartet, ich komme einfach nicht hinterher).

Jonathan Franzen sagte der Berliner Morgenpost kürzlich in einem Interview:

Wir Amerikaner sind alle in der Situation von Jay Gatsby, wenn er, in Fitzgeralds großem Roman, Daisy Buchanan gegenüber steht: So verzweifelt bemüht, die Liebe eines indifferenten Publikums zu gewinnen, daß wir alles für sie tun würden – riesige Partys schmeißen, gewaltige Vermögen anhäufen, prächtige Villen errichten, atemberaubende Kunststücke vollführen – alles in dem Bewußtsein, niemals angemessene Anerkennung zu erfahren. Das ist der Grund, warum es uns so viel Spaß macht, nach Deutschland zu kommen.

Also wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und sage mir: Es ist ein Geschenk, daß ich Geschichten erzählen darf. Und daß mein Publikum ganz und gar nicht indifferent ist. Heute habe ich noch allein geheult. Bald heult ihr auch!

27.7.05

Fliegende Landtiere

Ein Luxusproblem bei der "Todgeweihten": Die Höhepunkte kommen jetzt so häufig, daß ich gar nicht meine fiese Cliffhanger-Technik anwenden kann. Oft haben sich Leser "beschwert", sie könnten die Romane nicht weglegen, weil die Kapitel so spannend enden, daß sie weiterlesen müssen. Das mache ich natürlich bewußt so. Im spannendsten Augenblick wechsele ich zu einem anderen Erzählstrang – ein altes, in unzähligen Filmen und Romanen bewährtes Verfahren. Heute beim Schreiben mußte ich schmunzeln: Es ließ sich nicht mehr anwenden, weil in dem Moment, als mein Protagonist aufsprang und dem Vater der Heldin statt der Bitte um deren Hand eine wüste Beschimpfung an den Kopf warf (Höhepunkt 1), die Haustür zerbarst und das Splittern von Holz seine letzten Worte schluckte (Höhepunkt 2). Daraufhin ein Kampf zwischen zwei Männern, die eigentlich meinten, auf derselben Seite zu stehen (Höhepunkt 3). Meine armen Leser!

Um mich von all der Action zu erholen, bin ich spazierengegangen. Auf dem Fußweg sah ich eine Ameisenkönigin, die verschiedene Ritzen im Boden erprobte, wohl auf der Suche nach dem besten Platz für ein neues Nest. Junge Königinnen fangen ja ganz allein an; sie müssen ihre ersten Arbeiterinnen selbst zur Welt bringen und aufziehen.

Ich fragte mich daraufhin, wie sich Ameisen paaren, ob sie das in der Luft machen, oder nur Flügel bekommen, damit sie sich finden. Und kaum bin ich zu Hause: Hochzeitsflug! Dank meiner Dachfenster konnte ich alles gut beobachten. Die Ameisen paaren sich erst, wenn sie gelandet sind. Aber ich habe gestaunt, daß sie so gut fliegen können. Sie schwirren durch die Luft in feinen Bögen, als wäre es für sie das Normalste von der Welt. Landtiere! Die ihr Leben lang auf dem Boden herumkrabbeln! Ob wir auch so gut fliegen könnten, wenn wir für ein paar Tage Flügel hätten? Daß denen nicht schwindelig wird, wenn sie so hoch in die Luft aufsteigen!

Ich mag solche Fragen. Ein Freund machte dieser Tage eine ähnlich hübsche Feststellung:

wenn man so klein ist wie ein vogel, dann ist ein regentropfen ja so groß wie das auge – oder noch größer.

Gut. Ich verzichte aufs Fliegen.

22.7.05

Allesamt Pfeifen!

Heute beim Arzt, er sieht sich mittels Ultraschall meinen Bauchraum an: "Ist das die Leber oder ist das die Milz?" Aha. Er mißt nach, kann es nicht recht glauben. Also ist meine Milz stark angeschwollen. Sollte doch irgendwie kleiner sein als die Leber. Das führt zur Diagnose: Pfeiffersches Drüsenfieber. Endlich! Endlich hat die Sache einen Namen!

Jetzt kann ich den Gaunern kräftig einheizen. Reißt euch zusammen, ihr Pfeifen! Ihr habt lange genug in mir herumschmarotzt, wird Zeit, daß ihr euch einen neuen Körper sucht! Raus hier! Pfeiffersches, daß ich nicht lache, das sollen Viren sein? Pah, Pfeifen, allesamt Pfeifen!

Und damit zurück zum Roman. Bin froh, daß ich trotzdem schreiben kann. Der Arzt hat auch nicht schlecht gestaunt. Sonst hat man da wohl um die vierzig Grad Fieber. Aber wißt ihr, im Roman ist gerade Winter, meine Heldin erwacht mit Gänsehaut auf den Armen und einem Häufchen Schnee auf der Bettdecke, das durch die Spalten unter der Dachkante hereingeweht ist, das Waschwasser im Krug ist gefroren und draußen gleißen Sonnenstrahlen auf den Eisflächen wie gelbweißes Feuer. So etwas kühlt ab. Da hat Fieber keine Chance.

21.7.05

10 Pfennige dankend erhalten

Immer noch Fieber. Mann! So langsam habe ich es satt.

Aber was schön war: Heute vormittag habe ich Bürokram erledigt. Ich habe neue Ordner angelegt und die Rücken sauber mit computergedruckten Schildern beklebt. Nun hat "Die Todgeweihte" neben meinen anderen Romanen auch einen Platz unter den Ordnern, und ich habe die Buchverträge von den Kassenzetteln getrennt (sowieso verrückt, daß das jahrelang in ein und denselben Ordner gepaßt hat).

Mußte daran denken, wie ich als Kind Büro gespielt habe. Das hat mir immer Spaß gemacht. Ich mochte einfach alles, was mit Büroarbeit zu tun hatte: Briefumschläge, Radiergummis, Ordner, Büroklammern, Locher, Hefter. Auf meiner Schreibmaschine habe ich gerne herumgetippt. Meine Brüder und ich hatten Quittungsblöcke, und wir haben uns für jede Kleinigkeit Quittungen geschrieben ("10 Pfennige dankend erhalten"). Schön, daß diese Bürosachen jetzt zu meinem Beruf gehören und ich sie immer noch so genieße.

Eine Lehrerin hat die Kurzgeschichte "Stadtluft macht frei" mit ihren Schülern auseinandergenommen.

Zu zwei Textpassagen hatten die Schüler eine andere Sichtweise als ich. Also habe ich leichtsinnigerweise versprochen, den Autor zu fragen – was ich hiermit tue. Es geht zum einen um den letzten Satz des "Kneipen-Absatzes" etwa in der Textmitte, der lautet: "Sie (die Säufer) saßen den ganzen Tag in der dämmerigen Säuferstube, weil sie darauf lauerten, daß ein unbedarfter Spaziergänger hineinschaute, den sie fertigmachen konnten." Die zweite Stelle ist das Ende des darauf folgenden "Tauben-Absatzes": "Die, die nicht unten pickten, saßen oben im Stahlgerüst und gurrten. Wenn sie Schritte hörten, dann ließen sie zielgenau Kot herabfallen." – Während meine Schüler diese Passagen für "bare Münze" nahmen, meinte ich darin Ironie bzw. Selbstironie zu erkennen (festzumachen an Adjektiven und Adverbien wie "unbedarft" bzw. "zielgenau") – und damit im Grunde schon den Ansatz des Über-sich-Hinauswachsens, der in der leisen Ahnung liegt, dass man/Schmidt sich vielleicht doch in fixe Ideen verrannt hat.

Jutta


Für Schmidt sind die zielenden Tauben und die lauernden Säufer Realität. Er glaubt daran, und fühlt sich durch Taubenkot auf der Schulter oder die Blicke der Kneipenbesucher bestätigt. Es zeigt dem Leser, wie leicht man sich in eine einengende Weltsicht verrennt. Ein mutiger Schritt nach vorn (das Gespräch mit dem Mädchen) kann aber zumindest teilweise daraus befreien.

Hübsch und treffend fand ich die Aussagen von Oliver Pautsch, einem Drehbuchautor und Romanautor, in der neuen Ausgabe des Tempest: "Die Muse hat mich gefälligst jeden Tag zu küssen! Besonders seit ich Alleinverdiener einer Kleinfamilie bin, knutschen wir täglich. [..] Wenn Termine drängen, kann ich sogar früh morgens die Muse zusammen mit dem Rechner einschalten, obwohl ich sonst eher ein Nachtvogel bin."

Na dann, Muse. Ignoriere bitte dieses Kopfgedröhne.

19.7.05

God, I love my work!

Ein Virus hat mich befallen. Ich laufe seit Tagen mit Kopfschmerzen und Fieber durch die Gegend. Wenn ich aber vor dem Manuskript der "Todgeweihten" sitze, vergesse ich das. Nach vier Wochen Zwangspause endlich wieder schreiben zu können – es ist ein Gefühl, als käme man von einer Dienstreise nach Hause, würde seine Frau wiedersehen und feststellen, daß sie verdammt gut aussieht, verdammt gut riecht, und einfach das freundlichste Lebewesen auf der Erde ist.

Ist das manchmal so, ihr Verheirateten?

Porthos bringt es in "Three Musketeers" auf den Punkt: "God, I love my work!" (Das ist die Version von 1993 mit Kiefer Sutherland. Guckt euch das mal an und beachtet Portos' breites Grinsen und den Enthusiasmus, mit dem er das sagt.)

Was ich da so liebe? Ich habe die erste Hälfte der "Todgeweihten" gelesen und überarbeitet. Einen Satz durch ein treffenderes Wort zu verbessern, gibt mir einen unglaublichen Kick. Genauso genieße ich es, Wörter zu streichen, die überflüssig sind. Das alles macht mich sehr zufrieden. Der Roman wird gut.

Eine Art Urlaub nach den Prüfungen an der Uni. Habe ich von letzter Woche überhaupt berichtet? Es ist eine "2" geworden. Als die Professorin gemerkt hat, daß ich nervös war, hat sie mich nach meinen Romanen gefragt. Das hat geholfen.

Ist also alles bestens mit der "Todgeweihten"? Fast. Beim 15. Kapitel ließ meine Freude nach. Ich wurde unruhig, habe Essen gekocht, im Internet gesurft, bin zur Post gegangen, habe E-Mails geschrieben. An den Schreibtisch zurück wollte ich nicht. Ausweichmanöver. Mir dämmerte, daß das Kapitel nichts taugt. Nach ein wenig Filmmusik, Auf-dem-Boden-Liegen und An-die-Decke-starren sind mir spannende Alternativen eingefallen. Nun bin ich wieder happy. Die Geschichte wird einfach noch ein bißchen verzwickter, fieser, tückischer. Nun wird einer die Stadt Basel in die Katastrophe treiben, der das am allerwenigsten möchte. Und er wird dabei unter anderem der Frau schaden, die er liebt.

10.7.05

Eine Gänsehaut-Erfahrung

Ich liebe "das erste Mal". Man erlebt Dinge viel intensiver, wenn man sich bewußt ist, daß man ihnen noch nie zuvor begegnet ist.

Heute habe ich zum erstenmal mein Müsli-Frühstück auf einer Wiese unter freiem Himmel gegessen. Habe gleich nach dem Aufstehen die Bücher genommen, eine Decke, eine Flasche Wasser und eine Tupperdose mit Müsli, und bin damit damit losgezogen. Es war herrlich!

Außerdem hat mir zum erstenmal der Wind ins Ohr gesungen. Ich habe ihm die Flasche hingehalten, und er hat einen klaren Ton darauf geblasen. Sich die Flaschenöffnung ans Ohr zu halten, war eine echte Gänsehaut-Erfahrung, das Gefühl nämlich, der Wind singe nur für mich. Habt ihr euch den Wind schon mal als Person, als Lebewesen vorgestellt? Macht das mal! Man fühlt sich wie im Märchen.

7.7.05

Walter Jens, mein Untergang

Nun bin ich so beschäftigt mit dem Lernen für die allerallerallerletzte Prüfung nächste Woche, daß ich ganz vergessen habe, euch Bescheid zu sagen, wie die Klausur am Montag gelaufen ist. Danke für die vielen freundlichen Nachfragen per Mail!

Mein Thema war "Die historische Entwicklung der Rhetorik von Quintilian bis Walter Jens". Und ich war ehrlich geschockt beim ersten Blick auf das Aufgabenblatt. Walter Jens? In keinem der Bücher war sein Name gefallen. Gehört hatte ich ihn schon häufig, aber nur im Bereich meines Literaturstudiums. Welche Position hat Walter Jens zur Rhetorik bezogen? Keine Ahnung. (Hoffentlich liest meine Professorin nicht dieses Journal – ich habe noch keine Note für die Klausur.) Was habe ich gemacht? Ich wußte, daß Walter Jens noch lebt. Also habe ich über die Klausur geschrieben: "Die historische Entwicklung der Rhetorik von Quintilian bis Walter Jens", und dann die historische Entwicklung der Rhetorik von Quintilian bis heute beschrieben, ohne Walter Jens noch einmal zu erwähnen. Ich hoffe, ich komme damit durch.

Vor der mündlichen Prüfung nächste Woche fürchte ich mich. Welche Fragen wird mir die Professorin stellen? Welche Namen werden fallen, die ich nicht zuordnen kann? Ich hatte nie große Prüfungsangst bisher, aber diese letzte Prüfung meines Studiums macht mir Sorgen. Man gibt als Student Literaturlisten ab vor diesen Prüfungen, Listen von Büchern, die man "drauf hat". Aber offenbar richtet meine Prüferin sich nicht allzu sehr danach, was in diesen Büchern steht. Und sie hat alle Argumente für sich: Ich will einen Studienabschluß in Publizistik? Dann sollte ich aber xyz wissen.

Deshalb: Zurück zu den Büchern! Bloggen kann ich noch den ganzen Rest meines Lebens, aber diese Prüfung gibts nur einmal! Gestern habe ich 250 Seiten durchgearbeitet, heute sollen es 260 werden.

Und überhaupt, was renne ich wegen einer Prüfung mit dem Kopf gegen die Wand? In London herrscht Weltuntergangsstimmung ...

3.7.05

Lisa fängt nichts

Ich mache mir Sorgen um Lisa. Lisa ist eine kleine Spinne an meiner Zimmerdecke, und Lisa fängt nichts. Sie sitzt still in ihrem Netz und hungert. Wie lange hält es eine Spinne aus ohne Nahrung? Lisa klagt nicht. Sie zappelt nicht einmal. Geduldig wartet sie. Ich sollte mich ans Fenster stellen und ein paar Insekten hereinwinken.

Statt dessen aber muß ich gleich zum Zug nach Berlin. Schreibe dort meine letzte Magisterklausur. Unglaublich, was man alles im Kopf herumtragen kann. Ich bin bereit!

Damit ihr euch so lange die Zeit vertreiben könnt, weise ich euch auf das neue Album der Newcomer-Band "Sela" hin. Für eines der Lieder habe ich den Text beigesteuert. Einen Auszug daraus könnt ihr als MP3 hören (1,3 MB).