15.10.06

Galoppierende Kühe

Kühe stehen immer da und kauen. Oder sie stehen da und gucken. Aber rennen Kühe? Ich war ausnahmsweise mit dem Fahrrad unterwegs. Ein schönes Erlebnis: Die Landstraße, die ich sonst immer mit dem Auto fahre, und plötzlich höre ich die Grillen zirpen und die Vögel singen und sehe Tümpel, die mir nie aufgefallen sind. Dann sehe ich die ausgebüxte Kuhherde. Die Tiere rennen, nein, genauer: sie galoppieren neben der Straße entlang. Eine Kuh kommt auf die Straße gelaufen, zwei Autos bremsen herunter, die Kuh verdreht wild die Augen, weicht aus, rennt wieder den Hang hinunter zu den anderen. Was für eine Aufregung! Ich habe sehr gestaunt. Hätte nie geglaubt, daß Kühe zu solchem Galopp fähig sind.

Daß man eine Gegend anders wahrnimmt, wenn man langsamer fährt, ist logisch. Aber selbst von Mensch zu Mensch ist die Perspektive verschieden. Habe mich mit meiner Friseurin darüber unterhalten. Sie sagte: Wenn sie Nachrichten guckt, kann sie sich nicht auf die Meldungen konzentrieren, weil sie zu sehr auf die Frisuren der Leute schaut.

In meinem neuen Roman sind einige Passagen in Ich-Perspektive geschrieben. Schaffe ich es wirklich, den Blick dieses Menschen auf die Welt wiederzugeben? Die erste Passage, mit der der Roman beginnt, ist gut gelungen. Die anderen überarbeite ich zur Zeit. Meine Tendenz ist es, die Dinge zu kompliziert zu machen. Beim Überarbeiten vereinfache ich sie. Wenn ein Mensch von sich erzählt und den Zuhörer wirklich an sich heranläßt, dann sagt er auf einfache Art, was sein Schmerz ist.

Carolin hat eine Mail geschickt, die ich mit euch teilen will.

“Ein seltsames Erlebnis am Bahnhof Solingen-Grünewald möchte ich dir noch erzählen. Du wirst lächeln. Tagträumend aus dem Zugfenster starrend nehme ich wahr, wie mir ein Obdachloser wie in Zeitlupe zuwinkt, bis ich ihn bewußt sehe, und schließlich eine Kußhand wirft. Doch weit entfernt von jeglicher Anrüchigkeit. Stattdessen fühlte ich mich schlagartig geliebt, getröstet, verstanden – als wolle er mir Mut machen. Er! Wie paradox. Unwirklicher Zustand. Getrennt in zwei Welten, in Licht und Dunkelheit, im Zug und vor dem Zug, Alter und Jugend, Solingen und Düsseldorf. Ein Geschenk in slow motion.”