25.10.06

Habt ihr eine Toilette hier?

Seit zwei Wochen bin ich zu Lesungen unterwegs. Was ich am Hotelleben mag: Jede Nacht in einem frischbezogenen Bett zu schlafen. Reife Kiwis am Morgen. Was ich nicht mag: In mein Zimmer zu kommen, und jemand anderes hat aufgeräumt. Es kommt mir vor wie ein Eingriff in meine Privatsphäre, vor allem, meine Kleidung, die ich einfach hingeworfen hatte, feingefaltet zusammengelegt zu sehen. Ein stiller Vorwurf des Personals: Junge, werde ordentlicher! Ich bin ordentlich, will ich sagen, ich war nur noch nicht dazu gekommen, alles aufzuräumen. Laßt es mich selber machen! Aber es nützt ja nichts, abzuschließen – das Personal hat immer auch einen Schlüssel. Ein Hotelzimmer ist kein gutes Versteck.

Es gibt Situationen, die würde man einem Roman niemals abnehmen. Zum Beispiel diese. Vor drei Minuten beschwerte sich ein Fahrgast in der Regionalbahn nach Stuttgart, daß alle Toiletten im Zug defekt und geschlossen seien. Die Schaffnerin erwiderte: “Dann muß ich den Zug stehenlassen im nächsten Bahnhof.” Im Bahnhof angekommen, rief sie quer über den Platz: “Habt ihr eine Toilette hier? Ich muß sonst den Zug stehen lassen.” Die Bahnhofsvorsteherin antwortete: “Da hinten, bei den Fahrrädern.” Zwei Fahrgäste gingen mit rotem Kopf zu den Toiletten hinüber, während der ganze Zug zusah und wartete.

22.10.06

Am Boden

Das Jahrestreffen des Autorenkreises Historischer Roman “Quo Vadis” ist heute zu Ende gegangen. Wir haben über Verlage geredet, über die tägliche Arbeit, über Stoffe und Schwierigkeiten und Herangehensweisen. Viele, viele waren da, wie soll ich sie alle aufzählen? Rebecca Gablé, Helga Glaesener, Guido Dieckmann, Iny Lorentz, Kathrin Lange, ach, Dutzende mehr und lauter freundliche Gesichter.

Heute haben wir zum erstenmal den Sir Walter Scott-Literaturpreis für den besten historischen Roman verliehen. Der goldene Lorbeer ging an Markus Orths für “Catalina”, der silberne Lorbeer an Rebecca Gablé für “Die Hüter der Rose”, der bronzene an Peter Prange für “Miss Emily Paxton”. Im Geplauder nach der Preisverleihung sagte Markus Orths zu mir: “Ich kenne dich, vom Open Mike, da hattest du noch lange Haare.” Natürlich erinnere ich mich. Damals hat er auch gewonnen. Ich sehe ihn immer dann, wenn er einen Literaturpreis gewinnt. Scherzhaft habe ich gesagt: Das nächste Mal in Klagenfurt oder Stockholm. Er lachte. Aber so abwegig ist das gar nicht, finde ich. Ich komme, Markus! Bin gerne der, der bei deinen Preisverleihungen applaudiert.

Beim Mittagessen fragte ich Gisbert Haefs, ob er denn immer Lust zum Schreiben hat, und wie er sich motiviert. In der Laudatio hatte er erwähnt, er sei faul. Da er über 20 Romane geschrieben hat, wollte ich wissen, wie das sein kann. Er nannte einige Kniffe, aber sie trafen nicht mein Problemfeld. Ich erklärte: Es liege bei mir eher daran, daß ich mich vom Morgen bis zum Mittag für einen schlechten Autor halte, und es mir mitunter eine Qual sei, diesen schlechten Autor zum Schreiben zu bewegen. (Am Nachmittag wird der Autor etwas besser.) Seine Antwort war, daß er dieses Gefühl kenne, und daß es nach zwanzig Romanen immer noch da sei. Es werde sogar schlimmer, weil man soviel gelesen habe und seine Schwächen noch genauer kenne.

Das hat mich nicht gerade beruhigt. Statt am Nachmittag im Hotelzimmer zu schreiben, wie geplant, habe ich Stunde um Stunde mit Verdrängungen herumgebracht. Die Versöhnung kam erst am Abend. Ich las in einem literarischen Kalender einen Auszug aus Franz Kafkas Brief vom 1. November 1912.

“Mein Leben besteht und bestand im Grunde von jeher aus Versuchen zu schreiben und meist aus mißlungenen. Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon auf dem Boden, wert hinausgekehrt zu werden.”

So die eigene Stimmung eingefangen zu sehen, ist eine Erleichterung. Es baut einen Käfig um das Ungeheuer. Man kann es ohne Furcht beschauen und anschließend sagen: “Und ich schreibe trotzdem, blödes Viech.”

19.10.06

Das Musical

Gestern abend war ich im Musical “Basileia”, auf dem mein Roman “Die Todgeweihte” basiert. Ich saß in der fünften Reihe. Jeden Gesichtsausdruck habe ich mitbekommen, jeden Tanzschritt, jeden Ton. Es war ein großes Erlebnis.


Die Choreographie ist klasse. Ob ich darauf achte, weil ich selbst Tanzunterricht nehme? Manchmal waren die Tänze so ausgefeilt, daß es mir schwergefallen ist, mich für einen Blickwinkel zu entscheiden: Auf den Seitenbühnen wurde getanzt, auf der Hauptbühne, im Hintergrund, und überall verschieden, überall durchdacht und mit Aussagekraft.

Auch Kinder haben auf der Bühne mitgespielt. Bei der Judenverfolgungsszene kamen sie zum erstenmal vor, eine kleine Gruppe mittelalterlich gekleideter Kinder, die verängstigt aus einem Winkel hervorspähten. Das ließ die Szene real erscheinen, ich habe sie “geglaubt”. Als dann die Pest ausbrach, wurden die Kinder ebenfalls krank. Hier habe ich mir eine Seitennotiz gemacht, die für mich als Autor wichtig ist: Ich litt als Zuschauer mehr, wenn nicht der Mensch selbst vom Tod bedroht war, sondern sein Kind, und er es sterben sehen mußte. Irgendwo habe ich das schon einmal über Ken Follett gelesen. Er läßt seinen Helden immer Familie haben, damit jemand um ihn bangt und Schmerzen leidet, sollte er zugrunde gehen.

Die Musik! Ach! Ich liebe ja Filmmusik, schon einige wenige Takte genügen, und mir laufen Schauer über den Rücken. Gestern hat der Komponist selbst das Orchester dirigiert, und von meinem Platz aus konnte ich beobachten, wie er mit jeder Faser seines Körpers dabei war, wie er die Texte der Lieder mit den Lippen mitgesprochen hat. Es war seine Musik, die hier den ganzen Saal in ihren Bann zog, und er lebte in ihr. Ein bewegender Anblick.

Zum Cast des Musicals gehören Stars von “Cats”, “Jesus Christ Superstar” und “Les Misérables”. Bis zum 3. November ist es zu sehen. Es gibt noch Karten.

15.10.06

Galoppierende Kühe

Kühe stehen immer da und kauen. Oder sie stehen da und gucken. Aber rennen Kühe? Ich war ausnahmsweise mit dem Fahrrad unterwegs. Ein schönes Erlebnis: Die Landstraße, die ich sonst immer mit dem Auto fahre, und plötzlich höre ich die Grillen zirpen und die Vögel singen und sehe Tümpel, die mir nie aufgefallen sind. Dann sehe ich die ausgebüxte Kuhherde. Die Tiere rennen, nein, genauer: sie galoppieren neben der Straße entlang. Eine Kuh kommt auf die Straße gelaufen, zwei Autos bremsen herunter, die Kuh verdreht wild die Augen, weicht aus, rennt wieder den Hang hinunter zu den anderen. Was für eine Aufregung! Ich habe sehr gestaunt. Hätte nie geglaubt, daß Kühe zu solchem Galopp fähig sind.

Daß man eine Gegend anders wahrnimmt, wenn man langsamer fährt, ist logisch. Aber selbst von Mensch zu Mensch ist die Perspektive verschieden. Habe mich mit meiner Friseurin darüber unterhalten. Sie sagte: Wenn sie Nachrichten guckt, kann sie sich nicht auf die Meldungen konzentrieren, weil sie zu sehr auf die Frisuren der Leute schaut.

In meinem neuen Roman sind einige Passagen in Ich-Perspektive geschrieben. Schaffe ich es wirklich, den Blick dieses Menschen auf die Welt wiederzugeben? Die erste Passage, mit der der Roman beginnt, ist gut gelungen. Die anderen überarbeite ich zur Zeit. Meine Tendenz ist es, die Dinge zu kompliziert zu machen. Beim Überarbeiten vereinfache ich sie. Wenn ein Mensch von sich erzählt und den Zuhörer wirklich an sich heranläßt, dann sagt er auf einfache Art, was sein Schmerz ist.

Carolin hat eine Mail geschickt, die ich mit euch teilen will.

“Ein seltsames Erlebnis am Bahnhof Solingen-Grünewald möchte ich dir noch erzählen. Du wirst lächeln. Tagträumend aus dem Zugfenster starrend nehme ich wahr, wie mir ein Obdachloser wie in Zeitlupe zuwinkt, bis ich ihn bewußt sehe, und schließlich eine Kußhand wirft. Doch weit entfernt von jeglicher Anrüchigkeit. Stattdessen fühlte ich mich schlagartig geliebt, getröstet, verstanden – als wolle er mir Mut machen. Er! Wie paradox. Unwirklicher Zustand. Getrennt in zwei Welten, in Licht und Dunkelheit, im Zug und vor dem Zug, Alter und Jugend, Solingen und Düsseldorf. Ein Geschenk in slow motion.”

8.10.06

Küsse auf die Wangen

Am Freitag war ich auf der Frankfurter Buchmesse, und gleich der erste Termin – wegen der Bahnstreiks nur knapp geschafft – war eine Begegnung mit meiner spanischen Lektorin am Tisch meines Agenten. “Die Brillenmacherin” erscheint im Herbst 2007 in Spanien, und da die zuständige Lektorin zur Buchmesse da war, haben wir die Gelegenheit genutzt, uns kennenzulernen. Verdutzt war ich, als ich zur Begrüßung rechts und links auf die Wangen geküßt wurde. Im Rahmen einer Businessumgebung hätte ich nicht damit gerechnet. Ich muß sehr verdattert ausgesehen haben. Die Lektorin lachte und sagte: “So machen wir das in Spanien.” Damit war gleich die Nervosität verflogen, und wir konnten uns gut unterhalten.

Auch Kedros, meinen griechischen Verlag, habe ich am Stand besucht. Und aus den “Siedlern von Vulgata” gelesen. Da muß ich mir noch genauer überlegen, mit welcher Stimmlage die Außerirdischen sprechen ... Ein prallvoller Tag. Diskussionen, unerwartete Begegnungen im Menschengewimmel (“Du auch hier?”), Herumscherzen mit den Leuten vom Aufbau-Verlag, Glück, an einem Kochbuchstand vorüberzukommen, an dem es gerade Suppe gibt. Wie soll man einen Tag wiedergeben, der sich in Zehn-Minuten-Abschnitten abgespielt hat, in raschem Wechsel von Halle 3.0 zu 3.1 zu 4.1 zu 5.1 usw.?

Ich mag die zwei Buchmessen. Irgendwann lasse ich mir mal ein Namensschild geben und stelle mich wie ein Offizieller an den Verlagsstand und beantworte die Fragen der Leute.

Heute im ICE sprach eine alte Frau einen Soldaten an, sagte, es seien schwere Zeiten, und sie könne der Jugend gute Hinweise geben aus ihrer Lebenserfahrung. Der Wille sei wichtig, sie sei Preußin und habe das nie vergessen. Und man brauche auch Zuversicht. Die Jugend könne man für die schwierige Situation heute nicht verantwortlich machen. Dann brach sie in ein niedliches Großmutterlachen aus und sagte: “Wenn ich mich so reden höre, muß ich über mich selbst lachen.”

Ich finde, das ist genauso wichtig wie Willenskraft und Hoffnung: Über sich selbst lachen zu können.