29.8.05

Märchenlesung bei Aldi

Heute nachmittag bei Aldi: Eine Vierjährige nimmt ihrer Mutter den Kassenzettel aus der Hand, hält ihn sich feierlich mit beiden Händen vor das Gesicht und "liest" (so laut, daß es der halbe Laden hört): "Liebe Natalie, es war einmal ein Mann ..." Folgt eine Art Märchen, das sie sich selbst erzählt. Es geht um lange Nasen und andere Verrücktheiten. Ihrer Mutter ist es sehr peinlich. Warum bloß? Sie kann doch stolz sein auf ihre Tochter! Wer kann schon von einem Kassenzettel so etwas ablesen? Mir jedenfalls hat es den Einkauf versüßt. Hoffe, falls ich irgendwann mal Kinder habe, können die so etwas auch.

Einige von euch haben mich darauf hingewiesen, daß mein stummer Pianist gar nicht stumm und eigentlich gar kein Pianist war. Danke für die eingescannten oder verlinkten Zeitungsartikel! Da wollten wir wohl alle ein Märchen vom Kassenzettel lesen.

Übers Wochenende war ich bei meiner Großmutter. Dort steht noch die alte elektrische Schreibmaschine, auf der ich als Zwölfjähriger gelernt habe, mit zehn Fingern zu tippen. Ich habe gleich einen Brief darauf geschrieben. Es klingt sehr geschäftig, wenn man jede Taste wie einen Hammer zuschlagen hört. Andererseits: Mir täten die Nachbarn leid. Einen Brief schreibt man in einer halben Stunde – aber einen Roman? Frage mich, wie man es vor dreißig Jahren neben einem Schriftsteller ausgehalten hat.

23.8.05

Menschen mit Namen wie Cynybulk

Beim Beantworten von E-Mails begegnen mir mitunter Fragen, die auch euch Journal-Leser interessieren könnten. So war es bei dieser Mail von Sarah Kaiser, die ich euch hiermit in kleinen Häppchen darbiete. (Warum ich Sarah Kaiser schreibe und nicht einfach nur Sarah? Wie denn – ihr kennt Sarah Kaiser nicht? Weiterlesen! Und dann CDs kaufen!)

Hut ab! Reife Leistung, diese Romane in so jungem Alter. Und nicht nur einen, nein, gleich drei. Mit Recherche und allem. Habe zuerst den Kalligraphen gelesen, dann die Brillenmacherin. Liest sich gut! Hier die Fragen zu letzterem Roman: Wie kamst Du auf die Idee, diese Story zu schreiben? Wie kamst Du auf die Figuren Deiner Romane?

In der "Brillenmacherin" sind fast alle Figuren authentisch. Es hat diese Geschichte wirklich gegeben, mit dem geheimen Ritterbund, Erzbischof Canterbury, Doktor Hereford – selbst Sligh ist nicht erfunden! Entdeckt habe ich sie in einem Buch über Ketzer, und mich dann immer tiefer gegraben. (Besonders ergiebig: "Lancastrian Kings and Lollard Knights" von McFarlane.) Und die Sache mit dem Brillenmachen ... Das Thema hatte ich schon lange vor. Seit einigen Jahren. Man bringt das gar nicht so leicht zusammen, das Mittelalter und dieses diffizile Gläserschleifen und Schnitzen von Brillengestellen. Ich fand es sehr reizvoll, das mal zu erzählen.

Hast Du je Theologie studiert, oder lernt man all die kirchengeschichtlichen Fakten im Geschichtsstudium?? Gab es auch einen "guten" Bischof von Canterbury?

Ich habe nie Theologie studiert. In meinem Studienfach Mittelalterliche Geschichte habe ich ein bißchen Überblick bekommen, aber das meiste lese ich erst, wenn ich am Roman sitze. Diese Sachen sind ja kein Geheimnis. Bibliotheken sind gesprächig ... Findest du, William Courtenay ist böse? Er ist nett zu Tieren. Naja, okay. Ich gebe zu, ich habe ihn ein bißchen finster gemalt. Ob er wirklich so war, vom Charakter her, das weiß ich nicht. Was er getan hat, kann man hingegen recht genau nachvollziehen. Und daß es auch "gute" Bischöfe gab, habe ich ja im Roman "Der Kalligraph des Bischofs" geschildert.

Wieso im zweiten und dritten Roman der Wechsel vom männlichen zur weiblichen Protagonistin?

Soll ich ehrlich sein? Das war der Wunsch des Verlages. Weil mehr Frauen Romane lesen als Männer. Und mir hat es nichts ausgemacht – ich finde es sehr spannend, mich in die Position einer Frau hineinzudenken.

Wo lernt man Menschen kennen, die so abgefahrene Namen wie "Cynybulk" haben? ... ;-)

Im Aufbau-Verlag. So müßte ich heißen! Titus Cynybulk. Wäre das nicht viel einprägsamer? Nun ist es zu spät. (Und mein Lektor wäre sicher nicht einverstanden gewesen, wenn ich seinen Namen gestohlen hätte.)

Soviel zu Sarahs Mail. Und nun zu ihr. In einem kleinen Berliner Jazzclub habe ich sie das erstemal gehört und war gleich hin und weg. Sie hat Jazzgesang studiert an der Royal Academy of Music und an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler". Sie tritt in Fernsehen und Radio auf, leitet einen Gospelchor in Berlin, ist als Studiosängerin gefragt und gibt über das ganze Jahr Konzerte. Seit drei Wochen findet ihr Sarahs neue CD "Miracles" bei Mediamarkt. Geht hin, kauft sie und genießt!

Weil ich weiß, daß ihr von Natur aus vorsichtig seid, hier zwei Songs zum Reinhören.

Miracles (170 KB)
UR (170 KB)

Mehr Songbeispiele und alle Konzerttermine findet ihr auf der Website von Sarah Kaiser.

Mein Lektor Gunnar Cynybulk hat inzwischen die erste Hälfte der "Todgeweihten" gelesen und schrieb in einer Mail, er finde sie "sehr stimmungsvoll" und sei "vollauf zufrieden". Was mich erleichtert und freut. So kann es gern weitergehen.

Auch diesmal wird Norman Hothum die Karten zeichnen. Habe vorhin mit ihm telefoniert. Wir haben Dateiformate abgeklärt, über Farbe oder Schwarzweiß, einzelne Seite oder Doppelseite und Zentimetermaße gesprochen. Und ich habe ihm gesagt, daß ich mich immer noch an dem kleinen Kran über der Kathedrale von Leicester freue, den er auf die England-Karte der "Brillenmacherin" gezeichnet hat. Seine Antwort: Diese Idee hatte er, weil zur Zeit des Romans diese Kathedrale gerade im Bau gewesen sei. Schön, wenn ein Künstler sich so in das Projekt hineindenkt.

17.8.05

23 Texte

Du meine Güte! 23 Texte habt ihr mir gemailt, darunter viele Vorschläge, die meine Passage merklich verbessern. Wow. Was plage ich mich eigentlich mit solchen Fällen herum? Ich habe offenbar sehr begabte Journalleser. Danke euch! Entschieden habe ich mich letztlich für eine Mischung aus den Texten von Björn und Bruno.

"Was hast du vor?" fragte Christian noch. Dann schüttete Tam ihm den ganzen Eimer in den Nacken. Christian schrie auf. Er sprang in die Höhe, versuchte vergeblich, das nasse Hemd abzustreifen. Es klebte an ihm wie eine zweite Haut. Christian stolperte durch den Raum zum Kamin und hielt die zitternden Hände an das Feuer. "Bist du wahnsinnig geworden?" schrie er. "Willst du mich umbringen?"

Daß Björn und Bruno beide ein signiertes Exemplar erhalten, versteht sich von selbst.

Anfang der Woche hing ich fest mit der "Todgeweihten", nicht nur wegen obigem Absatz. Es war dieses generelle Unwohlsein, das immer anzeigt, daß es ein größeres Problem gibt mit dem Manuskript. Was war die Ursache? Ich war im Blindflug angekommen, und wußte nicht sicher, wie es weitergehen würde mit der Geschichte. Natürlich kenne ich das Finale, aber der Weg bis dahin war noch offen. Dadurch war aus der fröhlichen Reise ein zaghaftes Vorantasten geworden.

Nun habe ich den weiteren Handlungsverlauf geplant, und prompt ist das Unwohlsein verflogen. Das Schöne ist: Ich habe den Szenen beim Planen Seiten zugewiesen (diese Szene drei Seiten, jene Szene zwölf Seiten und so weiter), und als ich alles zusammenrechnete, hatte ich nur um vier Seiten die von mir angepeilte Länge des Romans verfehlt. Hat das mein Unterbewußtsein gesteuert? Gibt es da stille Zählwerke, von denen ich nichts weiß?

Weil noch viele von euch fragen: Das Pfeiffersche Drüsenfieber ist besiegt. Es geht mir wieder gut. Man merkt das, ob man noch krank ist oder wieder gesund. Trotzdem will der Arzt weiter Blutproben haben. In der Praxis werde ich schon fröhlich mit "Hallo, Herr Müller!" begrüßt, und habe meine Standarderwiderung: "Ich würde gern Blut spenden." Habt ihr einmal erlebt, daß ein Arzt zu euch gesagt hat: "Sie sind gesund, Sie brauchen nicht wiederzukommen"? Die sagen immer: "Kommen Sie nächste Woche zur Kontrolle wieder." Irgendwann werde ich also schwänzen müssen.

13.8.05

Der stumme Pianist, dem ich zuhören möchte

Ihr findet, wir haben nicht das passende Wetter für August? Man kann den Sommer trotzdem spüren. Habe gerade im Bad am offenen Fenster gestanden. Das Licht hatte ich ausgeschaltet, weil man besser hört, wenn es dunkel ist. Draußen: Grillenzirpen. Obwohl heute ein kalter, regnerischer Tag war, hatte ich sofort den Sommer in mir. Dieses Zirpen der Grillen am Abend ist eine unverkennbare Sommernachricht. Für mich zumindest.

Die "Todgeweihte" ist in dieser Woche um 42 Romanseiten angewachsen. Ein gutes Pensum für mich. Mit einem Absatz habe ich allerdings Probleme. Hat jemand eine Idee, wie ich ihn umformulieren kann? Es geht um die vielen Wiederholungen: "über" beziehungsweise "über den Kopf", "sprang" ... Mir fallen einfach keine Alternativen ein. Wißt ihr eine Lösung? Hier der Text:

"Was hast du vor?" fragte Christian noch. Dann schüttete Tam ihm den ganzen Eimer über den Kopf. Christian schrie auf. Er sprang in die Höhe, versuchte, sich das nasse Hemd über den Kopf zu ziehen, aber es klebte fest an seiner Haut. Er sprang über Schemel, hastete zum Kamin hinüber, hielt die zitternden Hände an das Feuer. "Bist du wahnsinnig geworden?" rief er. "Willst du mich umbringen?"

Wer mir den besten Vorschlag mailt an mail@titusmueller.de, dem schicke ich sofort bei Erscheinen ein signiertes Exemplar des Romans.

Manchmal passieren im echten Leben Dinge, die alle erfundenen Geschichten in den Schatten stellen. Habt ihr von dem stummen Klavierspieler gelesen? Im April hat man ihn an einem britischen Strand gefunden. Er trug einen nassen, schwarzen Anzug und sprach kein Wort. Als man ihm im Krankenhaus Papier und Stift in die Hand drückte, damit er seinen Namen aufschrieb, malte er einen Konzertflügel. Man führte ihn zu einem Klavier, und er spielte stundenlang. Allerdings: kein europäisches Orchester vermißt einen Pianisten. Und der Mann hat bis heute kein Wort gesagt. Das Krankenhaus in Dartford, wo man ihn aufgenommen hat, sagt inzwischen, man wird vielleicht nie wissen, wer er ist. Ich würde diesen Mann sehr gerne kennenlernen. Oder wenigstens eine Weile zuhören, wie er Klavier spielt. Ich möchte hören, ob er traurig ist.

5.8.05

Ein Mann angelt

Dem Himmel sei Dank! Ich konnte heute am Roman weiterarbeiten. Habe zwei Seiten geschrieben, über einen Schotten, der weit, weit weg von Basel auf einem überfrorenen See ein Loch ins Eis hackt und angelt. Mehr passiert nicht. Eine ruhige Szene. Ich muß den Lesern Erholung gönnen nach so viel mittelalterlichem Drama in Basel. Ein einziger Satz in der Szene am Eisloch verrät, daß auch der Schotte seine Narben hat. Aber diesen Satz wird niemand bemerken. Erst später im Roman denken vielleicht ein oder zwei gewiefte Leser an ihn zurück und nicken verstehend. Ich mag es, Fährten zu legen, die (fast) jeder überliest.

Hat mir übrigens selbst gut getan, eine friedliche Passage zu schreiben. Mein Schotte macht jeden Handgriff so selbstverständlich, wendet seine kleinen Anglertricks an, um die Fische herbeizulocken, genießt die Einsamkeit und die Kälte – für ihn ist die Welt in Ordnung. Und für mich, in dem Augenblick, in dem ich im Schotten drinstecke, auch. Man kann sich praktisch seine Wunschstimmung herbeischreiben ... Einer der vielen Vorzüge des Autorenberufs.

Danke für die lieben E-Mails und Genesungswünsche. Ihr seid großartig!

3.8.05

Alles, was ihr wollt

Eigentlich wollte ich in der Schweiz sein diese Woche, einen lang herbeigesehnten Besuch machen. Aber es steht 1:0 für das Virus. Nachdem ich versucht habe, es nicht allzu ernst zu nehmen, zwingt es mich nun regelmäßig ins Bett. Fieber. Again.

Hat schon mal einer medizinisch untersucht, ob Wut die Abwehrkräfte stärkt?

Ganz ohne Surfen wäre es zu langweilig. So bin ich gestern auf eine Website des amerikanischen Verlags Tor Books gestoßen, die extra für Andreas Eschbach eingerichtet wurde. Er hat das große Vergnügen, als deutscher Autor auf dem amerikanischen Markt publiziert zu werden. In einem Interview auf der erwähnten Website sagt er – logischerweise in Englisch – zur Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen US-amerikanischer Fantastik und europäischer Fantastik:

I have met many writers from both sides of the Atlantic Ocean and talked with them, and I've got the impression that the most important difference is a difference in the direction writers work. It seems to me that American writers easily master the requirements of form, of genre, of storytelling, of presenting something to a reader, but then they have to fight to discover the layers and layers of inner meaning of the story they are about to tell. European writers, on the other hand, easily understand what their stories are about, but they have to fight a lot to meet the criteria of a genre, to make it readable, to reach the reader and not deliver a boring, incomprehensible book. The good writers, of course, master the inner as well as the outer in the end, so the remaining difference is small.

Spannenderweise hat Tilo Eckardt, der HC-Cheflektor bei Heyne, ähnlich geantwortet, als ich ihn für den Federwelt Newsletter nach der Schwäche und der Stärke deutscher Autoren fragte.

Ihre große Stärke ist die Seriosität und Ernsthaftigkeit, mit der sie sich Themen annehmen. Ihre große Schwäche ist die Seriosität und Ernsthaftigkeit, mit der sie sich Themen annehmen. Merkwürdigerweise ist es in Deutschland immer noch mit einem gewissen Gout behaftet, an den Leser zu denken. Man will sich um Gottes willen nicht anbiedern, aber gefallen und geliebt werden will man doch. Das führt oft (längst nicht immer) zu einer gewissen Verkrampfung. Auch fehlt in Deutschland immer noch ein gewisser Respekt vor dem schwierigen "Handwerk des Schreibens". Handwerk klingt eben mehr nach Axt als nach Florett, und hierzulande will man gern die feine Klinge führen. Zumal, wenn man als Autor eine Botschaft hat. In anderen Ländern lautet die Frage: Wie schreibe ich eine Geschichte, die eine Botschaft vermitteln kann. Bei uns denkt sich der Autor oft von der anderen Seite an den Stoff heran: Wie mache ich aus der Botschaft eine Geschichte. Aber nicht die Idee oder Botschaft schafft Identifikation, sondern Figuren und Story.

Wenn das zwei Profis sagen – vielleicht ist etwas daran? Fragt sich, fiebernd, ein deutscher Autor, der gerne, gerne morgen wieder schreiben würde. Story. Figuren. Alles, was ihr wollt.