1.9.06

Was eine Barbiepuppe wiegt

Wenn man eine Geschichte schreibt, die weit in der Zukunft angesiedelt ist, muß man sich fragen: Was ist aus der Ausgangslage 2006 geworden über die Jahrhunderte? Wie hat sich das, was ich kenne, weiterentwickelt? Rückwärts betrachtet, ist diese Frage leichter zu beantworten. Es ist erstaunlich, wieviele Kleinigkeiten wir aus dem Mittelalter übernommen haben. Bei einfachen Gesten angefangen. Ein Beispiel:

Wenn meine Quellen recht haben, stammt unser Victory-Zeichen (Zeigefinger und Mittelfinger zu spreizen) von den englischen Langbogenschützen. Im Hundertjährigen Krieg waren sie die gefährlichste Einheit im Krieg, und wenn es gelang, einen von ihnen gefangenzusetzen, hat man ihm Zeigefinger und Mittelfinger abgehackt. Damit war er unschädlich gemacht, weil er nie wieder einen Pfeil schießen würde. Gewann die Seite der Langbogenschützen eine Schlacht, dann war es das Siegeszeichen der Bogenschützen, dem fliehenden Gegner Zeigefinger und Mittelfinger zu präsentieren: Sie sind noch dran! Ihr habt mich nicht gekriegt! Ob es auch eine Rolle gespielt hat, daß die Finger ein “V” bilden wie im Wort “Victory”, weiß ich nicht.

Jedenfalls pflegen wir die Geste noch heute, und halten sie für äußerst modern. Andererseits haben wir auch Gewohnheiten, die ein Mensch schon nicht verstehen würde, wenn er nur hundert Jahre zuvor gelebt hat. Für eine Sciencefiction-Geschichte finde ich es reizvoll, beides zu mischen, also Relikte aus weiter Vergangenheit neben Neues zu stellen. Das bringt ein Gefühl von Weite in die Geschichte, das wir im Alltag vermissen.

Jeder, der sich ein wenig mit der Weltgeschichte auskennt, wird bestätigen, daß es sowohl Entwicklungen nach vorn gibt, als auch Rückentwicklungen. Für die “Siedler von Vulgata” habe ich eine christliche Sekte zum Ausgangspunkt genommen und sie für lange Zeit von allen äußeren Einflüssen getrennt. Dahingestellt, ob sie sich technologisch weiterentwickelt oder Rückschritte gemacht hat – das könnt ihr im Roman selbst herausfinden –, interessant war für mich vor allem die Frage: Was passiert mit dem Glauben? Auf welcher Grundlage wird er gepflegt? Welche Rituale, welche Glaubenshandlungen entstehen oder werden bewahrt? Kommt man vom Weg ab?

Mein eigener Alltag hat mir Hinweise darauf gegeben, was mit dem Glauben an Gott passiert, wenn man ihn viele Jahrhunderte lang sich selbst überläßt. So leicht passiert es schon nach ein paar Wochen, daß es mir nur noch darum geht, bestimmte Dinge nicht zu tun und andere wiederum als meine Pflicht zu betrachten. Dabei gerät das Lebewesen, Gott, in den Hintergrund für mich. Sehr, sehr schade. (Ein Phänomen, das für uns Menschen typisch zu sein scheint, wenn ich mir die Kirchengeschichte anschaue.) Es hilft nur, sich immer wieder aufzubäumen. “He, Gott, bist du da?” – wenn ich das ein paar Tage nicht gesagt habe, erstarre ich.

Bei den Terranern in jener fernen Siedlung Vulgata treibe ich das Ganze auf die Spitze. Sie tun Dinge, ohne überhaupt noch zu wissen, warum. Sie verehren einen Gott, den sie nicht mehr kennen. Und dann tauchen plötzlich Außerirdische auf, die sie vor eine schwierige Entscheidung stellen. Ihre brüchigen Traditionen geben keine Hilfe.

Das Foto finde ich neckisch. Es ist ein Friseur hier in meinem kleinen Inselörtchen.


Heute, beim Einkaufen fürs Wochenende, stand ich beim Obst. Da kam ein kleines Mädchen angelaufen, stellte sich auf die Zehenspitzen, und legte ihre Barbiepuppe in die eiserne Waagschale. Sie wollte wissen, was ihre Barbie wiegt. Warum nicht? Warum bitteschön darf man eine Barbiepuppe nicht in die Obstwaage legen? Alles festgefahrene Traditionen, ich sag’s euch ...