23.8.06

Der Reiz von Sciencefiction

Darf ich euch einen seltsamen Gedanken erzählen? Er hat mit den “Siedlern von Vulgata” zu tun, die mich überhaupt hierher auf die Insel gebracht haben.

Da fährt, fliegt, schippert man in eine fremde Welt, weit weg. Man sieht englische Straßen, auf denen die Autos auf der falschen Seite fahren. Man sieht Leute in Arbeitskleidung: blauen Overalls, beklecksten, weißen Maler-Latzhosen, Polizeiuniform. Man sieht Eltern mit ihren Kindern schimpfen, sieht einen alten Mann den ebenso alten Nachbarn grüßen, erlebt einen müden Kassierer im Lebensmittelgeschäft. Und plötzlich erwischt es einen: Der Gedanke, daß hier jeden Tag eine eigene Welt abgelaufen ist, während man zu Hause in der seinen steckte. Daß für die Engländer die klobigen Ein-Pfund-Münzen ganz normal sind. Daß sie nicht dauernd einen Unfall erwarten, wenn ein Auto rechts überholt. Daß sie hier Alltag haben. Einen Inselalltag, an den ich nie gedacht habe, und der trotzdem da war.

Was, wenn es im Weltall weitere solcher Alltagswelten gibt? Ich sitze in meinem Zimmer und verzweifle über einer Romanseite, während sich ein paar Hundert Lichtjahre entfernt ein Wesen von der Größe eines Wolkenkratzers vor einem anderen Wesen verbeugt. Ich gieße meine Zimmerpflanzen, während ein Geschöpf auf einem fernen Planeten eine tausendstimmige, fremdartig-schöne Symphonie singt und pfeift und dudelt, mit Organen, an die ich nie denken würde. Ich stehe bei Aldi in der Schlange, während andernorts ein Außerirdischer eine neue Pflanzenart erschafft.

Das, finde ich, ist der Reiz von Sciencefiction. Man erweitert für einige Stunden seine Horizont. Auf die Dauer ist das nicht aufrechtzuerhalten, weil uns die kleinen Probleme des Alltags zwingen, unseren Blick wieder zu Boden zu richten. Aber solange ich eine Geschichte betrachte, die den Sinn auf fremde Welten richtet, wachse ich über mein beschränktes Denken hinaus.

Die Galchinen, die Außerirdischen-Rasse, von der ich in den “Siedlern von Vulgata” erzähle, hat ihre eigenen Verhaltensgebote, ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Vorlieben und Irrtümer. Während man sie mit Neugier und Schrecken betrachtet, werden einem vielleicht die persönlichen Denkweisen suspekt. Was versteinert war, bröckelt; was unveränderlich schien, könnte doch noch einmal überdacht werden.

Die Engländer sind keine Aliens, schon klar. Aber glaubt mir, hier ist so vieles so anders, daß ich nur staunen kann, daß es für die Menschen das Normale darstellt. Butter schmeckt immer salzig. Die Türklinken in meinem Haus sind auf Kniehöhe angebracht (fast). Straßenschilder bitten die Autofahrer: “Reduce your speed here”, ohne anzugeben, ob um eine Stundenmeile oder um zehn. Polizisten haben Reiterkappen auf. Und im Zug sagt der Schaffner “Sir” zu mir.

Nebenbei: Das Foto zeigt, was ich sehe, wenn ich von meiner Haustür ein kleines Stück bergab laufe.