6.9.06

Warum ich ein U-Boot brauche

Unser Leben lang sehen wir täglich die Sonne. Irgendwann ist es für uns selbstverständlich, daß da ein glühender Brandherd am Himmel steht. Wir vergessen, woher das Licht kommt, das es uns ermöglicht, Straße und Bäume und Autos und uns selbst zu sehen. Wer denkt noch darüber nach? Wer sieht wirklich den 6.000-Grad-Celsius-Feuerball, um den unser Planet kreist?

Dabei verfügen wir Menschen über eine erstaunliche Fähigkeit. Wir können uns aus uns hinaus denken, an einen beliebigen Punkt, in ein beliebiges Geschöpf hinein. Ich liebe das, wenn ich Romane lese und Romane schreibe. Manchmal hilft es mir, die Sonne wiederzusehen. Ich versetze mich in ein Lebewesen hinein wie Arrick in “Die Siedler von Vulgata”. Er befindet sich 5.197 Lichtjahre von der Erde entfernt auf dem Planeten Vanderbeyten, er hat nie die Erde oder die Sonne oder den Mond gesehen, nur davon erzählen gehört, und er fragt sich, wie es auf Terra wohl aussieht, auf dem Planeten, der für ihn kaum mehr als eine Legende ist, dem Planeten, von dem seine Vorfahren kamen.

In diesem Moment bin ich außerhalb, in diesem Moment sehe ich nicht meinen Notebook, den Tisch oder das Wasserglas neben mir. Ich sehe das Universum. Ich sehe Galaxien, Sternennebel, Feuerbälle, Planeten. Ich sehe die Erde von außen.

Kürzlich las ich “Die Falter” und “Die Weber” von China Mièville. Ich würde sagen: eine Kreuzung aus Horror und SF. Oder mindestens Thriller und SF. Der Reiz für mich? Die Welt aus den Facettenaugen eines Insektenwesens zu sehen, das sich ausschließlich durch Fühlerzeichen und Duftsignale verständigt. Die Welt aus den Augen eines Wesens zu sehen, das Wasser formen kann. “Draußen” zu sein, und dann über mich selbst zu staunen.

Es ist nicht selbstverständlich, daß wir so sind, wie wir sind. Daß wir Toastbrot mit Marmelade essen, und daß unser Körper daraus Hautzellen bildet, Knochen, Wimpern. Es ist nicht selbstverständlich, daß sich unsere Wunden nach ein paar Stunden schließen. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist es auch erstaunlich, daß wir tanzen können. Was passiert dabei in unserem Körper, in den Ohren, im Gehirn, mit Muskelsträngen, Sehnen, Nerven?

Ein Mann flog gestern mit einem kleinen Flugzeug über die Isle of Wight. Plötzlich ging der Motor aus. Er mußte notlanden. Viel Zeit zum Entscheiden blieb ihm nicht. Er hat sich den Strand nahe bei meinem Häuschen ausgesucht, und hat seine Maschine im flachen Meerwasser runtergebracht. Leute, die Ahnung vom Fliegen haben, sprechen jetzt voller Hochachtung von ihm. Es heißt, die Landung war eine Meisterleistung.

Wir bauen Flugmaschinen. Wir bringen sie in die Luft. Wir bringen sie wieder herunter. Schon mal darüber nachgedacht? Da sitzen wir kleinen Zweibeiner in Maschinen, die uns wie Zwerge erscheinen lassen, und jagen hinauf in den Himmel.

Wenn ich am Meer entlanglaufe wie heute, bleibe ich immer wieder stehen und sehe mir die Sachen an, die es an Land gespült hat. Giftgrüne Blätter und rote, geschwungene. Rosa Schneckenhäuser. Schwarze Muscheln, die innen wie Perlmutt glänzen. Oder Pflanzen wie diese.


Seht ihr die feinen weißen Tentakel, die sie wie Fühler ausstreckt? Sie sind zart, als könnte eine Berührung sie zerstören.

Das Meer kann man als Landschaftsform betrachten. Meinetwegen, da ist die Sonne. Meinetwegen, da ist das Meer. Aber man kann es auch als Wellenoberfläche sehen, unter der sich eine Welt verbirgt, die wir zum Großteil noch überhaupt nicht verstehen. Als ich heute die Pflanzen gesehen habe, die von den Wellen an seinen Rand gebracht wurden, ist mir bewußt geworden, daß ich vom Meer keinen blassen Schimmer habe. Kann mir jemand von euch ein U-Boot leihen?