4.9.06

Polly

Ich darf im Bus nicht lesen. Schon gar nicht mit Fish & Chips im Bauch. Aber T.C. Boyles Roman “Talk Talk” hat mich gegen alle Vernunft handeln lassen. Der Bus ist durch die schmalen, kurvenreichen Straßen der Insel gebrettert, bei jeder Kurve dachte ich, er kippt um, und trotzdem habe ich T.C. Boyle gelesen, und jetzt ist mir schlecht.

In Newport haben sich gleich beide Buchhandelsketten niedergelassen: Ottakar’s und MWSmith. Bei MWSmith bin ich fündig geworden. Ich habe zwei Stunden in der Buchhandlung zugebracht. Das Personal hatte mich gut im Blick. Dabei habe ich nur einen Roman in die Fantasy-Abteilung gebracht, der fälschlicherweise bei den Biographien einsortiert war. Als ich so ziemlich alle Bücher durchgesehen hatte, haben sie mir T.C. Boyle aber sehr freundlich für den halben Preis gegeben.

Ich war in der Stadt mit ein paar Leuten verabredet, pünktlich um sieben stand ich vor dem Haus und habe geklingelt. Niemand hat aufgemacht. Leider stand kein Name am Haus. Wahrscheinlich hatte ich die falsche Adresse, und was macht man, wenn man zwar ein Handy, aber nur die Telefonnummer 405995 hat, das kann ja nicht funktionieren, ohne irgendwelche Vorwahlen, und überhaupt.

Wenn man verabredet war und niemand zu Hause ist und man ist in einer fremden Stadt, fühlt man sich plötzlich sehr allein. Ich bin hier überhaupt nicht einsam, aber in diesem Moment war ich etwas verloren, und es kam mir vor, als würden mich alle Leute für einen komischen Kauz halten und sofort sehen, daß ich nicht hierher gehöre.

Glücklicherweise hatte ich auf dem Weg zur verabredeten Adresse McDonald’s entdeckt – jawohl, McDonald’s auf der Isle of Wight. Da bin ich hingegangen, habe einen McFlurry bestellt. Mehr hat nach den sehr reichhaltigen Fish & Chips nicht reingepaßt. Ich saß da, habe gelesen, und dachte: Die halten mich für daneben. Wie sieht das aus? Ein Typ sitzt da mit einem McFlurry im McDonald’s und liest. Das paßt wohl eher zu Starbucks.

Aus dem Augenwinkel sah ich, daß man um mich herum schon die Stühle hochstellte. Ich finde das sehr unhöflich, wenn noch Gäste da sind. Außerdem war es erst halb acht. Dann aber entdeckte ich am anderen Ende des Raumes einen jungen Mann, der einen dicken Roman las, und einen McFlurry aß. Das war so surreal, so verblüffend, daß ich nicht anders konnte, als zu lächeln. Er hat sich von den Angestellten nicht stören lassen, die da die Stühle hochstellten. Also habe ich auch einfach weitergelesen. Da saßen wir, aßen unser Eis, und lasen. Schön. Ich war wieder mit der Welt versöhnt.

Bin zur Bushaltestelle geschlendert. Ein blinder Mann kam die Straße hinunter und rief immer wieder laut: “Polly! Hea Polly!” Da war aber keine Polly. Dann kam mein Bus, und ich habe gelesen auf der Fahrt, und jetzt ist mir schlecht.

Kennt ihr das? Tage, die eigentlich ganz normal waren, die einem aber so vorkommen, als hätte man sie geträumt? Der Höhepunkt war es, zu klingeln, und es machte keiner auf. Man schämt sich für die Klingel, als hätte man mitten auf der Straße “Polly!” gerufen, ohne daß eine Polly in der Nähe ist.


Morgen finde ich die Vorwahl heraus und frage nach, wo alle waren. Hoffentlich nicht im Nachbarhaus. Das wäre einfach zu verrückt.