19.5.05

Was mich an Claudius von Turin begeistert hat

Wenn im Juni die neue Hardcover-Ausgabe des "Kalligraphen" erscheint, könnte es wieder häufiger Fragen zu diesem Roman geben. Wird Zeit, daß ich ihn mir in Erinnerung rufe.

Hallo Titus,
was an Claudius ist historisch? Wo bist du auf ihn gestoßen? Was hat dich an ihm
"gefangen"? Und wieviel Manuskriptseiten hatt der Kalligraph?
Liebe Grüße
Tanja


Claudius ist so echt wie du und ich. Hier ein Ausschnitt seines Kommentars zum ersten Buch Mose, geschrieben zwischen 808 und 811, und sehr wahrscheinlich von ihm selbst korrekturgelesen, inklusive Anmerkungen wie "CL FG" (Claudius figurate).

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Im Roman zitiere ich ihn häufig wörtlich. Ein Beispiel (zuerst Claudius im O-Ton):

Die Antwort ist so: Wenn wir alles Holz verehren wollen, das in die Form eines Kreuzes gebracht wurde, weil ja Christus an einem Kreuz hing, dann sollten wir dasselbe mit vielen anderen Dingen machen, die Christus im Fleische tat. Denn am Kreuz hing er nur sechs Stunden, aber im Bauch der Jungfrau war er neun Monate [..].

Deshalb laßt uns Jungfrauen verehren, weil eine Jungfrau Christus zur Welt brachte! Laßt uns Krippen verehren, denn er wurde kurz nach seiner Geburt in eine Krippe gelegt. Altes Leinen soll verehrt werden, darin wurde er gewickelt, als er geboren wurde.

Laßt uns Boote verehren, weil er häufig auf Booten segelte und die Menge von einem kleinen Boot aus lehrte. Er schlief auf einem Boot, befahl den Winden von einem Boot, und es war zur Rechten eines Bootes, wo nach seiner Prophezeiung der riesige Fischfang gemacht wurde.

Schließlich laßt uns auch Lanzen verehren, denn einer der Söldner öffnete seine Seite mit einer Lanze, und aus dieser Wunde flossen Blut und Wasser, die Sakramente, mit der die Kirche geformt ist.

Dies sind alles Scherze. Man sollte lieber darüber lachen, anstatt sie aufzuschreiben. Aber wir sind gezwungen, mit dummen Sachen gegen Dummköpfe vorzugehen und steinharte Schläge gegen steinerne Herzen zu führen, nicht Pfeile der Worte und Meinungen.


(Auszug aus dem Apologeticum atque rescriptum Claudii episcopi adversus Theutmirum abbatem)

Im Roman liest sich das so:

"Wirklich? Warum betet ihr dann ein Kreuz an und nicht ihn selbst? Wenn wir alles Holz verehren wollen, das in die Form eines Kreuzes gebracht wurde, weil ja Christus an einem Kreuz hing, dann sollten wir dasselbe mit vielen anderen Dingen machen, die Christus im Fleische tat. Denn am Kreuz hing er nur sechs Stunden, aber im Bauch der Jungfrau war er neun Monate. Deshalb laßt uns Jungfrauen verehren, weil eine Jungfrau Christus zur Welt brachte! Laßt uns Krippen verehren, denn er wurde kurz nach seiner Geburt in eine Krippe gelegt. Altes Leinen soll verehrt werden, darin wurde er gewickelt, als er geboren wurde."

Es wurde laut im Kirchenraum.

"Hier sind Dämonen am Werk", schrie jemand. "Bewahrt eure Herzen!"

Claudius wartete einen Moment. Dann sprach er etwas ruhiger. "Wollt ihr Boote verehren, weil er häufig auf Booten segelte und die Menge von einem kleinen Boot aus lehrte? Er schlief auf einem Boot, befahl den Winden von einem Boot, und es war zur Rechten eines Bootes, wo nach seiner Prophezeiung der riesige Fischfang gemacht wurde. Wollt ihr auch Lanzen verehren? Einer der Söldner öffnete seine Seite mit einer Lanze, und aus dieser Wunde flossen Blut und Wasser, die Sakramente, mit der die Kirche ..."

Man konnte ihn nicht mehr hören. Laute Rufe, Schieben, Drängeln und wütendes Pfeifen erfüllten die Kirche. Die Tür öffnete sich, und ein Strom von Leuten verließ den
Gottesdienst.

(Der Kalligraph des Bischofs, Kapitel 24)

Es gibt etliche mehr Stellen im Roman, an denen der wirkliche Claudius von Turin zu Wort kommt.

Auf ihn gestoßen bin ich beim Lesen eines Buches über Ketzer. Er war nur mit wenigen Sätzen erwähnt, aber es hat mich neugierig gemacht. Als ich mir dann seine Verteidigungsschrift gegen Theodemirs Vorwürfe besorgte – der Verrat seines Schülers an ihm ist historisch belegt! – und merkte, wie humorvoll und brillant dieser Mann war, mußte ich einfach einen Roman über ihn schreiben.

Die Zahl der Manuskriptseiten kann ich dir nicht sagen. Ich schreibe meine Romane einfach geradewegs herunter in 12-Punkt-Schrift einzeilig. "Der Kalligraph des Bischofs" hat 216 solcher A4-Seiten.

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Habe soeben gemütlich mit Sören Wendt, dem Harfner, gefrühstückt. Nebenbei haben wir uns Gedichte von Erich Fried vorgelesen. Später wechselte das Thema zu DDR-Erinnerungen von alten Straßenbahnen, unsäglichen Fahnenappellen vor der Schule oder "Abhängen an der Tischtennisplatte". Jetzt setze ich mich an den Roman, und heute Nachmittag geht es los nach Stade zur Lesung. (Sören ist spazierengegangen. Harfner habens gut!)