11.3.05

Das Problem der Fallhöhe

Komme mir vor wie ein Delphin, der Tricks vorführen mußte bei Sea World in Orlando – durch Reifen springen, rückwärts schwimmen, Saltos – und nun freigelassen wurde in den Ozean. Keine Karteikarten mit Jahreszahlen mehr, keine Prüfungspapiere. Die nächsten Monate gehören allein dem Schreiben.

Die Überführung vom Schaubecken in den Ozean geschah schon im Prüfungszimmer: Nachdem alles überstanden war, sagte einer der Prüfer, er habe den "Kalligraphen" gelesen, der Roman habe ihm ausgezeichnet gefallen. Damit war ich verabschiedet, kein Student mehr, sondern einer, der frei die Ozeane durchstreifen darf. Ein Schriftsteller.

In der nächsten Zeit lese ich öfter aus der "Brillenmacherin" – schaut mal unter Lesungen, es sind einige hinzugekommen. Bei jedem Roman entsteht nach einer Weile Routine, aus dem "Kalligraphen" konnte ich sogar ganze Absätze auswendig und habe sie vorgetragen mit aufgeschlagenem Buch, ohne den Blick vom Publikum zu nehmen. Für die "Brillenmacherin" muß ich erst einmal die Passagen auswählen, die ich lese. Möglichst solche, die neugierig machen auf den Roman. Wißt ihr, was ich heute dabei gemerkt habe?

Der Roman fängt schon wieder behutsam an. Dabei hatte ich mir so fest vorgenommen, diesmal rasant zu beginnen, mit einem Knall, mit einem Angelhaken im Schlund der Leser. Es will mir einfach nicht gelingen. Das liegt an der Fallhöhe: Man leidet erst mit den Protagonisten, wenn man gesehen hat, wie gut es ihnen vor dem Zusammenbruch ging, und wenn man sie ein wenig kennt. Deshalb lande ich doch jedesmal wieder dabei, zart zu beginnen, ohne dröhnende Pauken.

Gibt es einen Mord zu Beginn, sagt sich der Leser: Halt wieder so ein Mord, und er zuckt die Schultern. Stirbt aber ein Protagonist, nachdem man ihn liebgewonnen hat, schreit der Leser auf: Das kann nicht wahr sein!, und liest weiter, in der Hoffnung auf Sühne – und besorgt um die anderen Protagonisten. Also hebe ich die Katastrophen für später im Roman auf und beginne mit einer Krise, die verspricht, anzuwachsen zu einem großen Problem.

Habe mich trotzdem heute Morgen unter der Dusche entschieden, meinen bisher geplanten Romaneinstieg für "Basilea" zu ändern. Das muß rasanter gehen, fesselnder. Trotz Fallhöhe, die erst zu erklimmen ist. Ich möchte, daß die Krise schon wie der ferne Pfeifton einer Lokomotive zu hören ist, während sich die Protagonisten nett am Bahnsteig unterhalten.