21.2.05

Jede Nuß schmeckt anders

Manche Sätze machen mich glücklich wie ein Ferientag am Meer. Begegnet ihr auch solchen Schätzen? Zuletzt fand ich in Reimanns Roman "Franziska Linkerhand" den Ausdruck vom "Fernwehschrei einer Lokomotive". Ein Genuß, sich das laut vorzulesen. Der Fernwehschrei einer Lokomotive. Hach. Schade, daß die neuen Loks den nicht mehr kennen. Bin als Kind zwar fürchterlich erschrocken, wenn eine Dampflok pfiff, aber dem Charme dieses zischenden Ungetüms konnte ich mich trotzdem nicht entziehen. Öffnete man ein Fenster auf der Fahrt, zog Kohlengeruch in das Abteil. In den Kurven konnte man die Lok sehen, wie sie dem Zug voranstampfte.

Versteht mein Schwärmen nicht falsch, sie ist verheiratet. Aber es gibt da eine junge Autorin, die durch wundersame Fähigkeit solche Fernwehsätze erspürt und als kleine Geschenke niederlegt, wo sie sich gerade befindet. In einer Mail stand: "Muss jetzt das Chaos in der gesamten Wohnung wieder zurechtrücken, vorher kann ich keinen Satz schreiben, dafür laufen in meinem Kopf Papierrollen ab, mit Gedanken aufgesetzt."

Per SMS meldete sie: "Ich habe eben einen Igel getroffen, Wilsnacker Straße. Man hatte ihn vergessen beim Abendigeleinsammeln. Ich gehe durch die Nachtstadt und habe keine Angst."

Zwischen ihrem "Habe heute eine Uhr in der Küche aufgehängt. Trinke dauernd Cappuccino." und dem "Viele liebe Grüße, Herbst! Herbst!" ist etwas, das mir sagt, daß sie in absehbarer Zeit zwischen Hardcover-Deckeln publiziert. Ich versuche, ihr ein wenig zu helfen auf dem Weg dahin. Heute trafen wir uns im Café zum Plaudern; ich ermutigte sie, mit ihrem Romanmanuskript weiterzumachen, strenger zu überarbeiten, die Konflikte gut zu planen. Sie schreibt sehr intuitiv und fließend, das Handwerkliche ist ihr noch anrüchig, ich versuche, ihr das näher zu bringen und sie davon zu überzeugen, daß es keinen Widerspruch zum Intuitiven darstellt, sondern Hand in Hand geht damit.

Wenn ihr erstes Buch erscheint, melde ich hier den Titel. Ein bißchen wirds noch dauern, aber es ist unausweichlich.

Für mich war der Café-Besuch auch ergiebig: Ich sah einen Mann, der sein Frühstücksei mit dem Löffel von allen Seiten zerschlug, bevor er begann, es zu schälen. Was muß das für ein Mensch sein, der ein Ei so malträtiert, bevor er es verspeist? Sehe in Gedanken meine Romanheldin am Tisch sitzen mit ihrem Vater und einem Mann; die Situation ist beklemmend, es ist eine Pflichtmahlzeit. Erschüttert beobachtet sie, wie der Mann ein Ei durch Schläge auf den Tisch zermatscht.

Ich esse Haselnüsse, während ich diesen Journaleintrag schreibe. Ist euch einmal aufgefallen, daß jede Nuß anders schmeckt? Jede. Die Tütensüßigkeiten, die ich so oft verschlinge, bieten nicht annährend diesen Reichtum.

Gut, daß es Sprache nicht aus der Tüte gibt. Jeder Satz muß in einem Menschen reifen. Und gut, daß man vom Genuß dieser Sätze nicht dick wird.