9.10.05

Titus, der Hochstapler

Zwei interessante Veranstaltungen habe ich hinter mir, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Vergangenes Wochenende: Die Würth-Preisverleihung. Man unterhielt sich über die Entwicklung an den deutschen Universitäten, Rotwein, Verlage. Man verwendete Worte wie "unsäglich", flocht Zitate von Adorno oder Roland Barthes in seine Rede ein, und war generell eher von nobler Zurückhaltung. Glücklicherweise hatte ein Jurymitglied seinen fünfjährigen Sohn mitgebracht – der hat die Sache aufgelockert. Ich kenne kein einziges Zitat von Adorno oder Roland Barthes.

Dieses Wochenende: Das erste Treffen von "Publicon. Christen im Journalismus". Hier drehten sich die Gespräche um Politik, Karriere in den Medien, darum, wie man trotzdem Mensch bleibt und ethisch handelt. Zwischendrin wurde auch öfter gebetet, das hat mir gefallen. Am ersten Abend saß man an Tischen für vier Personen, und natürlich mußte sich ausgerechnet der Referent an meinen Tisch setzen: Dr. Nicolaus Fest aus der Chefredaktion der "Bild". Wie fängt man da ein Gespräch an? Mein erster Versuch war gleich ein Faux-Pas. Ich fragte ihn nach dem einzigen "Bild"-Mitarbeiter, den ich kenne – nach dem Rezensenten, der meine Romane in der "Bild am Sonntag" besprochen hat. Nur um zu erfahren, daß "Bild" und "Bild am Sonntag" von getrennten Redaktionen gemacht werden, und daß sie sich spinnefeind sind. Hüstel.

Trotzdem habe ich eine Menge dazugelernt, an beiden Wochenenden. Und ich kapiere gar nicht, warum ich dort hinfahren, in einem Hotel wohnen und all diese Menschen kennenlernen darf. Diese Lebenserfahrung kommt wir vor wie ein Geschenk ohne Absender, und ich bin etwas ratlos – natürlich auch dankbar! –, immer in der Sorge, man habe mich nur verwechselt, irgendwann käme heraus, daß alles ein Irrtum war, oder daß ich ein Hochstapler bin, daß man sich in mir getäuscht hat.

Am besten ist wohl: Ich merke mir das Gelernte, und kehre damit zurück zum Alltag. Was gibt es alltäglicheres als Aldi? Zum Ausgleich also eine Aldi-Geschichte.

Am Freitag stehe ich bei Aldi in der Schlange. Eine lange Schlange. Endlich wird eine zweite Kasse geöffnet. Wir teilen uns auf. Da sprintet von hinten eine ältere Frau voran und schiebt sich vor mir an das Förderband. Mit einem Knurrlaut ruft sie ihren Mann herbei, der einen übervollen Einkaufswagen zwischen mich und meinen Vordermann zwängt. So dermaßen frech hat sich in meiner Gegenwart schon lange keiner mehr vorgedrängelt.

Mit Mühe bezähme ich meinen Ärger. Ich schaue auf das Eis, das sie aufs Band legen, und sage mir: Die hatten eben Angst, daß ihr Eis schmilzt. Ich sage mir: Die haben’s eilig, ich nicht. Aber so richtig beruhigen sich die Gedanken nicht.

Da sehe ich hinter mir einen Mann ohne Wagen, der nur Brot kauft und ein Netz Orangen. Ich frage ihn: Wollen Sie vor? Er bedankt sich und geht vor mich. Ich muß grinsen. Schon geht es mir besser. Ich stehe zwar noch weiter hinten in der Schlange, aber es macht mir überhaupt nichts mehr aus. Wozu der Streß? Sollen sie nur alle vorgehen.