12.6.06

Wildschweinen eine Decke überwerfen

Es gibt hier eine Wiese, auf der die Gräser so hoch wachsen, daß sie mir bis ans Kinn reichen. Dort habe ich heute Vormittag eine Decke ausgebreitet und mich hingelegt. Ich las – für den neuen Roman – über Gerichtsverfahren im Mittelalter, über halbe Beweise, ganze Beweise und Einspruchsrechte. Plötzlich gab es ein Geräusch, das mich erstarren ließ: Ganz in meiner Nähe schnaufte etwas im Gras. Grunzlaute folgten. Dann kam Rascheln näher. Wieder ein Schnaufen. Mein Puls raste. Ich legte leise das Buch beiseite, und fragt mich: Was tue ich, wenn mich Wildschweine angreifen? Folgende Möglichkeiten gingen mir durch den Kopf.

1) Ich kann das Buch auf sie schleudern, um mich als “gefährlichen Gegner” zu etablieren. Aber das macht sie womöglich erst recht aggressiv.

2) Ich kann die Decke nehmen und sie den Wildschweinen überwerfen. Sie sehen nichts mehr , und ich habe Zeit, wegzulaufen.

3) Ich singe laut. Vielleicht verwirrt sie das, oder es beruhigt sie, oder es vertreibt sie auf wundersame, naturwissenschaftlich nicht zu erklärende Weise.

4) Ich fixiere die Tiere mit festem Blick und laufe langsam rückwärts. Vielleicht akzeptieren sie den würdevollen Rückzug eines gleichstarken Gegners.

Was habe ich davon getan? Nichts. Ich habe den Atem angehalten und gelauscht. Die Tiere kamen schnaufend näher, hielten einen Moment still, und dann gingen sie wieder. Als ich nach einer Weile wagte, mich zu bewegen, habe ich bemerkt, daß es mit dem Weglaufen nicht sonderlich gut geklappt hätte: Mein linkes Bein war eingeschlafen.

Übrigens konnte ich ohne Probleme weiterlesen. Ich hatte mir trotz der Angst die Seitenzahl gemerkt, bevor ich das Buch zuklappte. Manche Gewohnheiten sitzen tief.